Früh teilen statt spät zweifeln: Agiles Arbeiten geht auch bei mir
In letzter Zeit beschäftige ich mich intensiv mit den zwölf Prinzipien des agilen Manifests. Dies hat zweierlei Gründe: Zum einen tauchen sie immer wieder in Gesprächen mit meinen Studenten auf. Es ist beinahe unvermeidlich, dass wir an diesem Thema vorbeikommen, da agiles Denken und Handeln in nahezu allen modernen Projekten eine Rolle spielt. Zum anderen aber begegnen mir diese Prinzipien auch in meiner täglichen Arbeit als Berater, wo sie mir helfen, Impulse zu setzen und Klarheit in den Prozess zu bringen.
Besonders das Prinzip, das die häufige Auslieferung betont – „Deliver working software frequently, from a couple of weeks to a couple of months, with a preference to the shorter timescale“ – rückt für mich gerade stark in den Fokus. Wahrscheinlich, weil ich selbst aktuell mitten in einem Schaffensprozess stecke. Interessanterweise befinde ich mich plötzlich in der Rolle eines Entwicklers und nicht mehr nur in meiner gewohnten Rolle als Berater. Plötzlich geht es nicht mehr nur darum, andere zu ermutigen, schnell Ergebnisse zu präsentieren; ich muss es nun auch für mich selbst umsetzen.
Wenn ich zu einem Kunden gehe, ist es dieses Prinzip, das ich ihm immer und immer wieder vor Augen führe. Es geht eben nicht nur darum, in Projekten Fortschritte zu machen – es geht darum, die Fortschritte sichtbar zu machen und ständig Feedback einzuholen. Das gilt meiner Meinung nach nicht nur für Softwareprojekte, sondern für viele, vielleicht sogar für alle Vorhaben, die einen kreativen, iterativen Prozess durchlaufen.
Denn dieses Prinzip ist mehr als eine Technik; es ist eine Philosophie. Ich mag es, weil es so kraftvoll und zugleich so entwaffnend ehrlich ist. Es zwingt uns dazu, unsere Arbeit immer wieder ans Licht zu bringen und sie der Kritik auszusetzen. Und seien wir ehrlich: Gerade dieser Teil ist es, der vielen von uns so schwerfällt.
Erst vor kurzem hatte ich eine interessante Erfahrung mit einem Freund, der mich bat, sein Buch zu lesen und zu bewerten. Es sollte bald veröffentlicht werden – sehr bald. Über 300 Seiten warteten auf mein kritisches Auge. Natürlich fühlte ich mich geehrt, dass er meine Meinung schätzt und mich um mein Feedback bittet. Doch insgeheim fragte ich mich: Warum erst jetzt? Warum nicht schon viel früher, als noch Zeit war, die Richtung anzupassen und möglicherweise strukturelle Änderungen vorzunehmen?
Es scheint, als würden wir oft Wochen und Monate „im dunklen Keller“ an unserem „Baby“ arbeiten, bevor wir es der Welt zeigen. Warum tun wir das, obwohl wir es doch eigentlich besser wissen? Haben wir wirklich so große Angst davor, dass jemand sagen könnte, unser Werk sei unvollkommen oder – unser Baby gar hässlich?
Dieser Gedanke lässt mich nicht los. Es ist eine Art Paradoxon, das ich auch in meiner Arbeit immer wieder erlebe. Wir wollen mit unserer Arbeit anderen einen Mehrwert bieten, aber gleichzeitig scheuen wir uns, sie frühzeitig zu teilen und uns potenziell unangenehmen Rückmeldungen auszusetzen. Vielleicht ist es die Angst vor der Blöße, die uns antreibt, monatelang im Geheimen zu werkeln, ohne uns früh genug mit der Realität zu konfrontieren.
Doch hier zeigt sich die Stärke des agilen Prinzips. Indem wir uns zwingen, regelmäßig auszuliefern und Feedback einzuholen, durchbrechen wir diesen Zyklus der Unsicherheit. Wir werden mutiger, offener und letztendlich erfolgreicher. Die kurze Zeitskala zwingt uns zur Fokussierung, zur Priorisierung und zur kontinuierlichen Reflektion. So stellen wir sicher, dass das, was wir erschaffen, tatsächlich einen Wert hat – für uns und für andere.
Ps.: Ich habe durch die Situation mit meinem Freund gelernt, dass ich da kein Stück besser bin. Ich hab auch schon viel zu viel im stillen Kämmerchen gemacht. Aber es jetzt erkannt und begonnen es zu ändern.
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